Ich kann immer am besten denken, wenn ich laufe. Oder gehe, denn so besonders sportlich bin ich nicht. Und beim morgendlichen Waldlauf (oder -Gang) kam mir, der sportlichen Betätigung entsprechend, die Frage nach Durchhaltevermögen, Willenskraft und Disziplin in den Sinn.

„Geben Sie immer 110 Prozent!“ verlangt Bodo Schäfer in seinem Buch „Die Gesetze der Gewinner“. Die berühmten „mehr als 100 Prozent“ werden immer wieder gerne zitiert, wenn man Sportler oder andere in einem Wettkampf befindliche Menschen hört. Da wird dann schon mal das zehnfache bemüht und gar 1000 Prozent gegeben. Ich finde das problematisch, weil mathematisch völlig inkorrekt, aber inhaltlich versteht wohl jeder, was gemeint ist. Und sicher kann sich jeder leistungsorientierte Mensch dem Grundgedanken anschließen. Nur… wie gebe ich genau 110 Prozent? Wie viel sind 110 Prozent, wenn die 100 gar nicht richtig definiert ist?

Wie gesagt, ich bin nicht sehr sportlich. Der morgendliche Waldlauf ist vornehmlich Auslauf – für meinen Hund. Das gelegentliche Einhertrotten wird unterbrochen durch ausgedehnte Phasen geruhsamen Gehens. Zumindest war das bis ein paar Wochen so. Bis ich mir diese Frage stellte.

„Was, wenn ich mir vornehme, meine gesamte morgendliche Runde zu joggen? Was muss ich tun?“ fragte ich mich. Natürlich: Langsam aufbauen, meine Kondition steigern. Trainingspläne gibt es ja genug. Und dann natürlich: Visualisieren. Ich stellte mir vor, die Strecke komplett zu laufen. Ich malte mir genau die Geschwindigkeit aus, sah die Bäume vorüber gleiten und meine Füße über Pfützen springen. Und ich nahm mir vor: Bis zum Jahrenende konnte ich das schaffen.

Am selben Tag arbeitete ich an einer Stärken-Analyse. Dabei hatte ich Freunde, ehemalige Kollegen und Geschäftspartner gebeten, mir jeweils 5 Dinge zu nennen, die mich in ihren Augen auszeichneten, und zwar nach Priorität geordnet. Danach wurden dann Punkte vergeben. Das Ergebnis war für mich verblüffend. Auf Platz drei lagen, mit jeweils fünf Punkten, die Eigenschaften Empathie und Kreativität. Danach kam die Leidenschaft mit sieben Punkten (oder ähnlich gewichtete Begriffe wie Begeisterungsfähigkeit und Enthusiasmus): Die Eigenschaft, die ich persönlich für meine große Stärke hielt. Aber anscheinend gewichteten meine Befragten das anders. Auf dem zweiten Platz bekam die Loyalität schon zwölf Punkte. Doch es gab einen ganz klaren Sieger: Willenskraft (bzw. Durchhaltevermögen) lag mit 23 Punkten eindeutig vorne. Na gut, als Kind war ich für meine Sturheit bekannt… aber sollte das immer noch so eine große Rolle spielen?

Das ging mir am nächsten Morgen beim Waldspaziergang wieder durch den Kopf. Und plötzlich fragte ich mich: Wie wichtig sind die Grenzen, die wir uns selbst setzen? Wo nehmen wir die 100 Prozent an? Und warum sollte ich bis zum Jahresende trainieren, wenn ich die paar Kilometer auch SOFORT laufen konnte? Wenn es stimmte, was Schäfer, Robbins und all die NLP Gurus sagen, dann braucht man nur das richtige Mindset, die richtige Entschlossenheit, die richtige Visualisierung, und es klappt.

Also lief ich. Es tat ziemlich weh. Mein Körper signalisierte mir sehr deutlich, dass er das nicht kann. Aber irgendwie war das einfach unerheblich. Dass meine Knie schmerzten, dass ich Seitenstiche hatte, war zwar unschön, tat aber einfach nichts zur Sache. In dem Moment, wo ich es wirklich wollte, war anhalten oder langsamer werden keine Option mehr. Ich lief an dem Morgen sechs Kilometer. Und ich begriff: Du musst die 100 Prozent nicht definieren. Du musst einfach immer mehr geben, als möglich ist – und jede Option für weniger aus Deinem Kopf streichen.

Ich glaube, das ist der Trick. Sich in den Zustand zu versetzen, in dem Aufgeben einfach keine Option mehr ist. Das klappt nicht nur beim Sport – das klappt bei jeder anderen Herausforderung ebenso gut.

Das ist jetzt zwei Monate her. Seitdem stehe ich jeden Morgen auf – und laufe. Es klappte zuerst nicht an jedem Tag. Sobald ich abgelenkt war, sobald ich eine andere Option im Kopf zuließ als „Laufen!“, hörte ich auf. Zumindest am Anfang. Mittlerweile schaffe ich die Strecke recht mühelos, und ich kann wieder meine Gedanken schweifen lassen, während ich laufe…

Ideale Voraussetzungen für die nächste abenteuerliche Idee.

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